Gegenwart:
Hannah ist eine junge Studentin, die auf der Stelle tritt.
Mit ihrer Abschlussarbeit kommt sie nicht voran, sie hat keine Freunde oder
Hobbys und ihre Interessen bestehen darin, ihre Oma Evelyn einmal wöchentlich
in der Seniorenresidenz zu besuchen und ihren Doktorvater nach einer
Liebesnacht im Internet und in der Uni anzuschmachten. Sie wohnt alleine in der
Wohnung, nachdem ihre Mutter verstorben ist und hat einen leichten Hang zur
Depression. Eines Tages stößt sie bei ihrem wöchentlichen Besuch in der
Seniorenresidenz auf einen Brief aus Israel: Evelyn hat gestohlene Nazi-Kunst
geerbt. Hannah ist Feuer und Flamme und möchte nachforschen. Evelyn hingegen
möchte von alldem nichts wissen und wartet nur noch auf den Tod.
Berlin 20er Jahre:
Senta ist ungewollt schwanger mit Evelyn uns steckt in einer
unglücklichen Ehe mit dem Kindsvater fest. Eigentlich wollte sie mit ihrer Freundin
Lotte Berlin unsicher machen, doch sie wird leicht depressiv und kann erst nach
drei Jahren ihren Träumen folgen. Evelyn muss sie zurücklassen und Trude,
Evelyns Tante, kümmert sich fortan um das Kind. In Berlin nimmt das Familien-Schicksal,
u.a. geprägt vom 2. Weltkrieg, seinen Lauf…
Allein das Cover hat schon nach Aufmerksamkeit geschrien:
Gelb-und Orangetöne auf dunkelblauem Hintergrund und der Titel des Buches in
einem gelben Kreis. Das fällt definitiv auf. Die abgebildeten Vögel und Blumen
haben aber nichts mit dem Inhalt gemein. Und was hat es mit dem merkwürdigen
Titel auf sich? „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ ist ja
nicht unbedingt ein gewöhnlicher Titel und auch nicht grammatikalisch korrekt. Warum
das Buch heißt, wie es heißt, wird beim Lesen deutlich. Mehr verrate ich nicht!
Die Haupt- und Nebenprotagonisten sind gut dargestellt und facettenreich
charakterisiert. Die Zusammenhänge zueinander sind schnell erfasst und
ebenfalls detailliert beschrieben. Den Überblick behält man gut. Die Autorin
hat die Perspektivenwechsel geschickt eingesetzt und diese stören auch nicht den
Lesefluss. Genauso wenig die Zeitsprünge. Man wechselt von der Gegenwart (Evelyn,
Hannah, Jörg) in die Vergangenheit (Trude, Evelyn, Senta, Itzig) und zurück, wobei
in der Gegenwart bestimmte Handlungen und Abläufe aus der Vergangenheit
gespoilert werden, bevor diese im nächsten Vergangenheitsabschnitt beschrieben sind.
Das fand ich besonders gut, denn so war der Wechsel fließend und die Gesamthandlung
machte somit mehr Sinn. Geholfen haben auch die Zeit-und Ortsangaben (z.B.
Berlin 1942). So wusste man zum einen, dass wieder ein Erzählwechsel in die
Vergangenheit ansteht und zum anderen konnte man die Handlungen historisch
einordnen. Wir begleiten die Familien nämlich ab den Goldenen 20ern bis zur
Nachkriegszeit um dann eben immer den Sprung in die Gegenwart zu wagen. Es war
sehr spannend, beide Zeiten parallel mitzuverfolgen.
Die Autorin greift mit ihrem Roman ein wichtiges Thema auf: gestohlene
und beschlagnahmte Kunst von Juden während der SS-Zeit. Auch heute noch werden Recherchen
und Ermittlungen angestellt, doch die Kunst wurde entweder zerstört oder so
verstreut, dass die Wege nicht mehr nachvollziehbar sind. Dabei beschreibt sie
das Schicksal der jüdischen Familie Goldmann (die angeheiratete Familie von Senta)
und das der Krankenschwester Trude und der angehenden Ärztin Evelyn während der
Kriegszeit. Dabei schreckt sie auch vor schrecklichen Szenen nicht zurück. Sie
schafft es aber, diese realistisch und glaubwürdig zu beschreiben ohne zu
übertreiben. In der Gegenwart greift sie das allbekannte Problem auf, dass viele
junge Menschen ohne Perspektive sind. Sie haben ein Studium, aber der zündende Funke
fehlt. Die sozialen Kontakte sind eher beschränkt (trotz Großstadtleben) und sie
haben einen leichten Hang zu Depressionen. Hannah, einer der Hauptfiguren,
erlebt genau das. Gefangen in einer unkonventionellen Affäre tritt sie auf der Stelle,
bis ihr der Brief in die Hände fällt. Das bringt einige Steine ins Rollen. Dann
gibt es wiederum Menschen, die etwas erreichen wollen, aber schlicht und ergreifend
untergehen. Dies zeigt sie an Jörg, der Hannah bei ihren Recherchen verbissen
unterstützt, aber trotzdem von seinem Vorbild nicht wahrgenommen wird. Ob es
für die beiden jeweils ein Happy End gibt, muss man selbst herausfinden.
Es ist gewiss keine leichte Lektüre, aber dennoch ein tolles
Buch, was einen aufsaugt und erst am Ende wieder ausspuckt.
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